Das Erste Improvisierende Streichorchester:
Senza Misura - die erste CD des legendären Improvisationsensembles
Viel Tinte ist schon über dies einmalige Orchester geflossen. Viele Menschen haben es in Konzerten, auf Straßen, im Fernsehen oder als Inselurlauber an einsamen Stränden gesehen und gehört. Viele haben die Spielerinnen und Spieler gefragt, wo denn "die CD" bleibe...
Und immer wieder stellte sich in den 15 Jahren des Wirkens dieser Gruppe heraus, daß sich wirklich frei improvisierte Musik, daß sich Musik in Bewegung und als Choreografie, daß sich multimediales und multidimensionales Agieren nicht einfach in einen Tonträger pressen und somit auf die rein-akustische Dimension reduzieren läßt. Freilich, Konzertauftritte sind mitgeschnitten, abgehört und weitergereicht worden. Viele Aktionen wie Stadtbespielungen, akustische Raumeroberungen oder "Land-Art"-Projekte sind professionell auf Video gebannt, geschnitten, nachgestaltet und als "Video-Kunst" verkauft worden. Auch Biolek hat das Ensemble in einen eigens bunt bemalten Omnibus gesperrt und es von dort aus seinem Millionenpublikum vorgeführt. Aber jeder, der das Ensemble kennt und erlebt hat, wird dennoch die jetzt vorliegende CD mit Skepsis in die Hand nehmen und auflegen.
Ich muß zugeben, daß ich die CD mit Ohren eines Orchestermitgliedes der ersten 5 Jahre höre. 1984 hatten wir das Orchester als "Streicher-Big-Band" gegründet, was dank eines uns alle überraschenden Erfolgs in der ersten Wochen gründlich mißglückte.
So streifte das über 30 Personen starke Orchester, das sich von Anfang an frei im Raum bewegte und stets mindestens die Hälfte eines Konzertes "konzeptlos" spielte, systematisch und schnell die Reste jazziger Starre, das Ritual des Solistenwesens und der Tutti-Hierarchie ab. Einige große Geiger oder Cellisten, für die das Orchester ein Sprungbrett gewesen war, stiegen aus, die Lücken wurden aufgefüllt durch experimentierfreudige und musikalisch unternehmungslustige Menschen. Übrigens stets bei einem in der Branche ganz unüblich hohen Frauenanteil. Zunehmend prägte Willem Schulz mit seinen Stadtbespielungen, Land-Art-Ideen und apogryphen Melodiefetzen in balkanischen Rhythmen das Klangbild des Orchesters. Die Stärke lag, so merkten die Musikerinnen und Musiker bald, nicht da, wo Free Jazz oder avantagrdistische Konzeptionskunst angesiedelt sind, sondern in einem eigentümlichen Bewegungs-Klang, der surrealistisch, geheimnisvoll und zugleich liebevoll freundlich daher kommt. Das betrifft beileibe nicht die Töne oder Harmonien, sondern die Präsentation als ganze. In diesem Stadium beging das Ensemble am 20. November 1999 im "Monsun" in Hamburg-Altona vor einem Publikum, das überwiegend das Orchester noch nie gehört und gesehen hatte, seinen 15. Geburtstag und wurde begeistert gefeiert.
Die vorliegende CD gibt diese surreal-klangliche und zugleich liebevolle Seite des Orchesters in einer Serie von Klangbildern wieder. Als das Orchester am besagten Geburtstag im ersten Teil des Konzerts diese CD live präsentierte, verzichtete es auf Bewegung im Raum und choreografierte eher homogene Bilder im Sinne eines einheitlichen optisch-akustischen Gestus. Und so sollte man meines Erachtens auch diese CD anhören: Mit jedem track eröffnet sich dem Ohr eine besondere klangliche "Duftmarke", ein akustisches Parfüm. Da gibt es den Eintonstil, der zu einer Klangspaltung führt, den Flickenteppichstil, in den minimale Soli wie die Sternbilder in den Himmel einbeschrieben sind, das Motion-Pictureske oder die Explosion, den durchsichtigen Flageolett-Hauch oder das improvisierte Klassik-Imitat. Tutti-Improvisationen spalten sich immer wieder in Teile auf, sei es, daß eine Gruppe sich quasi-solistisch herausarbeitet, sei es, daß das Orchester polyphon auseinander fällt. Oft gehen derartige Prozesse von einem Zufallsereignis aus, das mehrere Spielerinnen oder Spieler auf gleiche Weise interpretieren. Und immer wieder gibt es auf unerklärliche Weise eine gemeinsame Spontanidee der ganzen Gruppe.
Im Gegensatz zur Live-Präsentation, in der durch die Raumbewegung doch eher eine Art Spaltklang vorherrschend ist, sind die Stücke dieser CD sehr homogen und ineinander verwoben. Fast jedes Stück setzt mit einer statischen Klangidee ein, die dann unterschiedlich weitergeführt wird. "Senza Misura", track 5 der CD hält konsequent am Anfangsklang fest, in "Drei" (track 3) wiederum ist von der Anfangsidee am Ende nichts mehr zu
spüren.
Ich kann mir vorstellen, daß man diese Musik genießt, wenn man relativ gut drauf ist. Sie ist nichts zum Abreagieren oder um sich aufzustacheln. Die Versuchung, sie im Hintergrund laufen zu lassen, ist zwar groß, aber man sollte es nicht tun. Denn die Klänge tragen einen nur, wenn man in sie eintaucht und ihren ständigen minimalen Veränderungen hinterher horcht. Es ist dabei - zum Glück - nicht nötig, die Choreografie, mit der das Orchester auf der Bühne arbeitet, zu kennen, die Klänge sind choreografisch genug.
Wenn ich abschließend sagen sollte, wo diese CD unterzubringen und zu orten ist, so fällt dies, da es kein vergleichbares Improvisations-Ensemble auf der Welt gibt, keineswegs leicht. Die Impro-Szene kennt meines Erachtens derartige
Klänge nicht. Improvisierende Musikerinnen und Musiker sind meist viel zu ungeduldig, um einen Klangschatten 10 Minuten lang vorbeihuschen zu lassen, ohne daß sich eine der 30 Spielerinnen vordrängelt und unbedingt etwas sagen möchte. Am ehesten wäre die orchestrale Klangwelt von Scelsi oder der "Atmospheres" von Ligeti zu nennen, wenn man ihr das Ernsthafte, Verbissene und den Arbeitscharakter der ausübenden Musiker unter der Notensklaverei wegnehmen könnte (was aber nicht geht). Und ein Stück wie "over down under" (track 7), in dem die Streicher mit
Walgesängen kommunizieren, zeigt, wie weit dieser Sound von demjenigen gängiger "Nature-CD's" entfernt ist. Es gibt also kaum etwas direkt Vergleichbares. Mit ein Grund, sich diese CD zuzulegen oder schenken zu lassen. Und dann lasse man sich das ausgefeilte "fade out" von "Lento" (track 1) auf der Zunge zergehen und versuche mit dem "Lento" (track 2) zu atmen.
Wolfgang Martin Stroh Oldenburg, Dezember 1999