E.I.S.
improvisation

Lutz Wernicke

Berlin

Geige, Space Violin

Wie ich zur Improvisation gekommen bin :

   Als Kind klimperte ich gedankenverloren auf fremden Klavieren und fand es wunderbar, was meine Hände da für Klänge in der Luft entstehen lassen konnten. Als Gymnasiast im Schulorchester „kontrapunktierte“ ich gern auf fantasievolle Weise die vorgegebene Geigenstimme, oder brachte kleine Variationen und Umspielungen ein. Mein Pultnachbar Gunter P. drehte sogar während laufender Konzerte die Notenblätter auf den Kopf, und dann mußten wir entweder auswendig spielen können oder eben improvisieren. Wer von uns dabei in Not geriet und mit Schweiß auf der Stirn schnell die Noten wieder richtig rum drehte, hatte dann leider verloren und musste einen ausgeben. Daher entwickelte man ungeahnte Improvisationskünste, um den Zeitpunkt dieser Schmach möglichst weit hinaus zu zögern.... Schwierige schnelle Stellen umschiffte ich elegant, indem ich den virtuosen Strich lautlos über die Saiten hauchend ausführte. Dies ist übrigens auch der Ursprung meiner flötigen Spacegeigen-Technik....

  Oft fragte ich mich, schon als 12-Jähriger, was Kompositionen eigentlich sind und wie man das wohl macht. Einmal fing ich einfach an, eine Notenmelodie aufzuschreiben, ganz so, wie ich es im Kopf hörte, und folgte den Ton-Bewegungen in meinem Innern, so wie man von Gedanken geführt wird. Das war ganz spannend. Dabei verzichtete ich auf Taktstriche, da es mir zu zuviel war, die Melodie auch noch in ein Raster zu zäunen, war auch nicht wichtig. Diese kleine fantasievolle Komposition legte ich eines Tages meinem Onkel Ludwig vor, der in unserer Familie als anerkannter Musik-Fachmann galt. „Sehr schön“, sagte der, nahm einen Stift und fügte als erste Amtshandlung erstmal die fehlenden Taktstriche ein, wichtig! Wenn meine Melodie an manchen Stellen nicht ins metrische Schema passen wollte, radierte Onkel Ludwig einfach was weg oder machte aus einer Achtelnote eine halbe. (Dieses opus No.1 ist ungespielt und verschollen.)

  Entscheidend angeregt wurde das Improvisieren durch die Rockmusik. Hier öffnete sich mir die Tür zu einer lustvollen Welt, an der ich teilhaben wollte. Nach den ersten Akkorden auf Mutters Wanderklampfe kam schon bald eine E-Gitarre ins Haus, die ich über mein Tonbandgerät verstärkte. Dauernd spielte ich Gitarre zu meinen Schallplatten: Beatles, Lou Reed, J.J. Cale, CCR, Hendrix, Santana oder Can. Von denen konnte ich ‘ne Menge lernen und spielte bald improvisierte Soli und variierte Einwürfe dazu. In unserer Schüler-Band war das allerdings nicht so easy-flockig möglich, weil das Fundament oft noch nicht stimmte, denn alle in der Gruppe waren 16-jährige Anfänger. Aber wir lernten auf spielerische Weise, wie man sich anderen Instrumenten zuordnet, und dass man auf die Energie der anderen achtet. Wir spielten feste Stücke und machten lange Improvisations-Sessions. Tonal stand die Pentatonik ganz oben, stilistisch war das Ganze etwa im Blues- und KrautRock angesiedelt.

  Doch noch andere Musik-Genres und Stile schlichen sich in meine Musikwelt ein und machten mich freier im Kopf, was mir Ideen und Mut fürs Improvisieren einbrachte:

  Ich war 15. Zum ersten Mal hörte ich Indische Musik, ausgelöst ganz klar von George Harrisons Beatles-Songs. Beim Sound der Sitar hat es irgendwie im Kopf geklingelt, ich glaube mein Scheitel-Chakra wurde gekitzelt.... Sogar bei uns in der Musikschule (Hamm, Westf.) gab es einmal ein indisches Konzert, nur Sitar und Tabla. In wohliger räucherstäbchengeschwängerten Atmosphäre fingen die 2 Musiker an.... - und ich erinnere mich nur noch, dass es irgendwann zu Ende war. Was war eigentlich zwischendurch gewesen? Es war eben purer Space, für mich eine erste Erfahrung von Zeitlosigkeit. Den gleichen Effekt hatte ich übrigens ein paar Jahre später wieder bei einem Minimal Music Konzert, als Steve Reich mit seinem Ensemble „Drumming“ aufführte, ein Wahnsinnsstück in Phasenverschiebetechnik. Die Musik hatte ganz klar etwas mit der Zeit gemacht. Musikalische Hypnose, bewusstseinserweiternd, ein Natural High. (Dieses Stück führte ich dann auch selbst mit dem Ensemble Es in den späten 80ern auf.)

  Das musikalische Empfinden von Geräuschen habe ich durch Stockhausen & Co. gewonnen. Besonders seine Collage „Studie II“ und das Stück „Kontakte“, dass ich bereits im Alter von 16 Jahren live erleben konnte, lösten bei mir ein anderes, freieres Musikhören aus.

  Diese genannten übergreifenden Hörerlebnisse haben langfristig bei mir den Boden bereitet für einen erweiterten Improvisationsspielraum. Denn ist die Musik vom linearen Stress befreit, stellt sich die Improvisation ganz automatisch ein. Man kann sich um Ton und Augenblick kümmern. Doch konnte ich diese Erfahrungen erst 10 Jahre später selbst musikalisch verwerten, denn ich war noch zu sehr von 2 Welten eingenommen: Klassik und Rock’n’Roll. In unserem Barock-Kammerorchester wurde nicht improvisiert (obwohl man mitbekam, dass die das angeblich damals bei Bach und Vivaldi gemacht hätten). Aber in den kommenden Rock- und Reggaebands setzte ich neben Gitarre & Stimme zunehmend die Geige ein und improvisierte nach Herzenslust Melodien über die Changes.

  Eine praktische Erfahrung mit völlig freier Musik machte ich zum ersten Mal 1981 in einer Free-Jazz Band. Hier wurde viel geraucht sowie der Musik+Attitüde von Pharoah Sanders, Sun Ra und Cecil Taylor gefrönt. Konzept der Band war ‘Energie rauslassen’. Spielen, was man will - manchmal gab es auch fantasievoll gezeichnete Zettelvorlagen, die einen dynamischen Ablaufprozess skizzieren sollten. Ja, und da hab’ ich mich zum ersten Mal getraut, voll aus mir heraus zu spielen. Loslassen und Energie rausgeben! Nicht denken, nix kontrollieren wollen. Nur tönen. Mit den anderen zusammen, jetzt! Wunderbar. Quasi Urschreitherapie. Eine neue Klappe ging auf.

  Eine eigenständige, inhaltlich dichtere Improvisationsweise habe ich erst durch den Kontakt mit anderen Kunstgattungen entwickeln können - das war in meiner Studienzeit in Osnabrück (80er Jahre). Mich interessierten erweiterte und experimentelle Ausdrucksformen der Musik, wobei auch die Theorie musikphilosophischer Begleitliteratur einige Bedeutung hatte (Hamel, Behrend, Gebser, Khan). Neue improvisatorische Aktivitäten konnten starten, und es ergaben sich Vertonungen von Experimental-Filmen, Performances mit AusdrucksTanz-Gruppen, musikgeprägte Literaten-Abende, happeningartige Stadtmusiken. Ich arbeitete zusammen mit Malern, Bildhauern und Konzeptkünstlern. Ausstellungen wurden mit Geräusch & Ton erweitert, ich spielte als Kunstobjekt auf Vernissagen. Visuelle und Materialkunst traf auf die Zeitkunst Musik.
  Bei solchen Ereignissen wird die Musik Partner eines anderen Elements, steht nicht im unmittelbaren Fokus und man kann sich Dinge trauen, die man sonst nicht unbedingt öffentlich machen würde. Ich lernte, Momente und Phasen zu erfassen und zu genießen. Man kann z.B. viel leichter ‘lange und leise‘ spielen, ohne das Gefühl zu haben, irgendwelche Erwartungshaltungen erfüllen zu müssen. Klangmusik zu improvisieren bedeutet: Zuhören, Töne zu Visuellem finden, Räume besetzen, auf andere Zeit umschalten, ungewöhnliche Pausen gewähren.... Der kurze Duktus und die langen Bögen müssen bei freier Improvisation stimmen, die ‘richtigen’ Töne ergeben sich dann von selbst - die Tonalität ist untergeordnet. Dies war auch die Zeit, als ich das Erste Improvisierende Streichorchester kennen lernte, bei einer mich sehr verblüffenden ganztägigen Stadtmusik in Osnabrück.

  Viele Klangexperimente und Musikaufnahmen fanden ab Mitte der 80er in unseren Homerecording-Studios statt, dabei wurde ich während langer Nächte zum Maler und Konstrukteur von Musikstrukturen und Klängen. Improvisation und Entscheidungskraft im richtigen Augenblick spielen hierbei eine wesentliche Rolle, um Interessantes hervorzubringen und Unerwartetes zuzulassen.

  Der tonale Ausdruck und das freie Erzählen von Geschichten war mir beim Improvisieren immer ein großes Bedürfnis gewesen, und das kam bislang eindeutig zu kurz. Solch personifiziertes Spiel war nämlich bei unseren Kunstprojekten nicht angesagt, ich bewegte mich da eher in einer abstrakten oder assoziationsfreien Sphäre. Als Ausgleich versuchte ich daher, gute Musiker mit entsprechendem Background zu finden, mit denen ich als kompakte Band mit physischer Elektro- und DrumPower losdampfen konnte. Ich nannte den von mir angestrebten Stil ‘Slow Motion Space Beat‘ und arbeitete mit den Bands ‘Echo-Echo‘ und Das Blaues Palais ein paar schöne Ergebnisse heraus. Songstrukturen wichen dem zunehmenden Vertrauen auf ‘Instant Composing‘, einem gruppenimpulsgesteuerten Improvisieren von Melodie, Harmonie, Rhythmus und Ablaufstruktur. Solistisch spornte mich dabei die Improvisationskraft eines Miles Davis, John Coltrane oder Zbigniew Seifert an, meine eigene Stimme auf dem Instrument zu finden. Geige & Gitarre wurden zu Instrumenten, auf denen ich mich intuitiv und selbstverständlich ausdrücken konnte - doch noch fehlte ein gewisser Funke.

  Mit diesem neugewonnenen Musikbewußsein ging ich auf Weltreisen, um direkten Kontakt zu fernen Musikkulturen wie Indien, Arabien oder Karibik aufzubauen und zu prüfen, wie nah man sich da in der Improvisation kommen kann. Meine Geige war auf allen Reisen immer dabei - Gitarre & Klavier findet man ja fast überall vor Ort. Das Zusammenspiel mit exotischen Musikern barg so manche Überraschung. Natürlich wurde viel improvisiert. Manchmal fühlte ich mich dabei völlig verloren oder steif wie ein Stock (letzteres unter Schwarzen). In den besten Momenten jedoch wurde ich in die Aura andersartiger Musiksprachen geführt und konnte mich dabei musikalisch frei bewegen und verständigen. Herz & Seele übers Instrument sprechen lassen, wenn das funktioniert und andere erreicht, ist es das Größte. Sprachen lernt man ja am besten im Mutterland, so auch die Musik. Aber es hat mich nie interessiert, total intensiv in andere Systeme einzusteigen, etwa um ein Raga-Geiger zu werden. Meine Basis ist ganz klar der abendländische Ton, gepaart mit schwarzer Rhythmik. Aber der neugewonnene Aspekt war für mich, dass ich jetzt exotische Farben in mein Spiel einbaute und in der Improvisation völlig eklektisch vorgehen konnte. Meine Stimme bekam neue Dialekte. Tonal bezog ich jetzt feinste mikrotonale Abstufungen mit in mein Spiel ein, so wie es mich bei arabischen Musikern so reizte. In dieser Hinsicht habe ich 'ne Menge über den Münchner Ethno-Jazz Musiker Christian Burchard kennengelernt. Auf den KonzertTouren mit seiner Band Embryo erlebte ich viele aussergewöhnliche Begegnungen mit verschiedensten Musikern der Welt. Überall haben sie ihre ganz speziellen ‘Blue Notes‘, überall wird anders auf den Punkt gespielt und überall wird kräftig improvisiert. Mit fortschreitendem gelebten Leben weiß ich auch immer mehr, was ich wirklich spiele, und wovon ich eigentlich beim Improvisieren erzähle. Das hat lange gedauert, dahin zu kommen - und es ist nie zu Ende.

 

Was das E.I.S. in meinem Leben bedeutet:

  Für mich ist das E.I.S. eine über lange Zeit zusammen hochgewachsene Familie, die sich vorteilshafterweise nicht zu oft sieht. Daher bleiben Lust und Toleranz miteinander bestehen. In dieser Orchestergemeinschaft habe ich gelernt, mich einzufügen, mich zu behaupten und mich zurückzuhalten. Es war oft, besonders in der Anfangszeit, echt hart, gewisse Gruppenprozesse erleben und ausstehen zu müssen. Basis-Demokratie erfordert Diskussionsrunden, Achtsamkeit und spontanes Entscheiden, was man sagt oder ob man sich überhaupt jetzt einbringt. Zuhören dauert manchmal länger, als einem lieb ist. Doch es hat sich gelohnt. Freie Geister können kommunizieren, langfristige Freundschaften sind entstanden.

  Musikalisch ist das Orchester ein Forum für Experimente jeder Art, musikalisch und szenisch. Wir können Aussagen und Provokationen wagen und sind dabei immer geschützt im Netzwerk der Gruppe. Das ist ein starkes Gefühl, dieses ‘unsichtbar-mit-einander-verbunden-sein‘. Erfahrbar exklusiv im E.I.S.

  Dabei ist es immer wieder berauschend, mir das Feeling eines streichenden Klangkörpers abholen zu können. Dieses ‘ein-Mosaikteil-im-ganzen-Orchester-sein’ und dabei zusammen diesen Sound zu erzeugen, dass war schon früher in den klassischen Orchestern äußerst scharf. Neben der Musik habe ich bei unseren Aktionen eine Menge über Körperbeherrschung und Raumbewusstsein gelernt. Theatralisch-körperliche Aspekte, die mich sogar in meinem Alltag anders bewegen lassen. Durch die Arbeit mit dem E.I.S. habe ich eine besondere künstlerische Sichtweise erlangt, die in alle Lebensbereiche greift.

 

Berlin im November 2009

Lutz Wernicke



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Erstes Improvisierendes Streichorchester